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Vom Niedergang des Westens

Die USA und Europa am Abgrund?

Eine gesunde Industrie ist der Dreh- und Angelpunkt für den Wohlstand eines Landes. Damit sich diese bilden kann, sind Zölle vorübergehend zwingend nötig. In seinem hochinteressanten Buch ›Warum manche Länder reich und andere arm sind‹, beschreibt Erik S. Reinert den Weg zur Wohlstandsnation. Er mahnt gleichzeitig den Westen an, dass die Nichtbeachtung wichtiger Regeln den hiesigen Wohlstand gefährden.


Sehr geehrter Herr Reinert, Sie haben mit Ihrem Buch ›Warum manche Länder reich und andere arm sind‹ ein höchst interessantes Werk veröffentlich, das den Verlust der Wirtschaftsmacht der westlichen Länder vorhersagt. Gibt es dafür bereits Anzeichen?

Erik S. Reinert:
In der Peripherie des Westens gibt es deutliche Anzeichen, auch innerhalb der USA und der EU. Die Industrie hat zur Herausbildung eines Mittelstands geführt, wenn nun die Industrie schrumpft, schrumpft auch der Mittelstand. Diese Seuche hat zuerst die Dritte Welt, etwa die kleineren Staaten Lateinamerikas, getroffen. Danach haben wir eine massive Deindustrialisierung der ehemaligen Sowjet-Union gesehen, und jetzt kriecht die Seuche von der Peripherie Europas in Richtung Mitte, das heißt, sie bewegt sich auf Deutschland zu.

Hinzu kommt, dass nur gesunde Industrieländer eine hohe Bevölkerungsdichte verkraften können, weshalb Migration in diese Länder eine Folge der Deindustrialisierung oder der fehlenden Industrialisierung in gescheiterten Ländern ist. Ich sollte sofort erwähnen, dass diese Entwicklung mehrere Ursachen hat. Der Ökonom William Petty hat damals am Beispiel Hollands gesehen, dass die Wirtschaftsstruktur reicher Länder sich qualitativ verändert. Zuerst, sagte Petty, sind die meisten Einwohner in der Landwirtschaft tätigt, dann wächst die Industrie, und am Schluss nehmen die Dienstleistungen zu.

Ein Grund dafür ist, dass das Produktivitätswachstum der Industrie sehr viel größer ist, als in den traditionellen, zahlreicher werdenden Dienstleistungen. Industrie kann verstärkte Nachfrage durch Hochfahren der Produktion sehr einfach bedienen, was bei Dienstleistungen nicht möglich ist. Ein Beispiel: Will man die Produktivität eines Symphonieorchesters erhöhen, kann man entweder den Minutenwalzer von Chopin in 50 Sekunden spielen oder ein kleineres Orchester beschäftigen. In beiden Fällen leidet die Qualität. So ist es nicht bei industrieller Herstellung. Die hohe Produktivitätsentwicklung der Industrie führt also dazu, dass Industrie, prozentual gesehen, in der Wirtschaft abnimmt. Auch dann, wenn die Nachfrage gleich bleiben würde. Damit wird aber die Industrie nicht weniger wichtig. Im Gegenteil!

Was ist für Sie der Schlüssel zu hohem Wohlstand?

Reinert:
Der Schlüssel des westlichen Wohlstands ist, was französische Ökonomen „Fordistisches Gehaltsregime“ nennen: Alle Einkommen – auch diejenigen, die kein Produktivitätswachstum haben – wie zum Beispiel Friseure – haben ihr Einkommen im Takt des industriellen Produktivitätswachstums erhöht. Dieses Modell wurde jedoch geschwächt oder zerstört, zuerst in den Vereinigten Staaten, dann in Europa. Einerseits hat der Westen zu viel Industrie an Asien weggegeben, andererseits überlassen wir – mithilfe des eingefrorenen Euro-Wechselkurses – die Peripherie Europas scheinbar ganz absichtlich der Deindustrialisierung. Der Euro ist eine Katastrophe, da die Kaufkraft in der gesamten EU abnimmt. Eine schrumpfende Indu­strie ist daher unvermeidlich. Es muss deshalb alles getan werden, die Industrie in den verschiedenen Ländern zu erhalten.

Sie gehen der Frage nach, warum manche Länder arm bleiben und andere zu Wohlstand kommen. Als Ergebnis Ihrer Untersuchungen kann man zusammenfassen, dass es ausschließlich die Industrialisierung ist, die Länder reich werden lässt. Sind die seit Jahrzehnten laufenden Entwicklungshilfeprojekt demnach ein Irrtum, da keine Industrie dadurch entsteht beziehungsweise angestrebt wird?

Reinert:
Kein Land ist jemals ohne Industrie reich geworden, reine Öl-Länder ausgenommen. Das äußerte auch der ehemalige Chefökonom der Weltbank Justin Yifu Lin. Eigentlich geht es nicht um Industrie an sich, aber um dynamische imperfekte Konkurrenz unter bedeutenden Skalenerträgen und Zutrittsschranken, die meistens nur in der Industrie vorkommen. Ein Hausmaler hat niedrige Zutrittsschranken und wird deshalb leicht Opfer von der Konkurrenz billigerer Arbeitskräfte. Mercedes-Benz hat es besser. In den ersten Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg – der beste Wachstumsperiode den die Weltwirtschaft je gesehen hat – hat man dieses Prinzip verstanden, wahrscheinlich weil man sich an den Riesenerfolg des Marshall-Plans noch erinnert hat. Dann nicht mehr, außer in China, wo man noch die alten Prinzipien mit großem Erfolg weiterführt.

Auch den USA wurde von England eine Entwicklung zur Industrienation lange Zeit untersagt. Zu wertvoll waren die Einfuhren aus Übersee. Erst durch den Befreiungskrieg konnte dieses Joch abgeschüttelt werden. Heute sind die Vereinigten Staaten von Amerika militärisch und wirtschaftlich die unangefochtene Nr. 1 in der Welt. Wird der Weg zum Wohlstand vielen Staaten nur deshalb vorenthalten, um den dort vorkommenden Bodenschätzen leichter habhaft zu werden?

Reinert:
Ist man zynisch, ja. Ist man weniger zynisch sieht man eine Mischung von opportunistischer Ignoranz und bösem Vorsatz. Der deutsche Volkswirtschaftler Friedrich List hat im Jahre 1841 die Situation ganz gut beschrieben: »Es ist eine gemeine Klugheitsregel, dass man, auf den Gipfel der Größe gelangt, die Leiter vermittelst welcher man ihn erklommen, hinter sich werfe, um andern die Mittel zu benehmen uns nachzuklimmen.« Deutschland wurde im Jahre 1947 durch den Marshall-Plan von der Deindustrialisierung des Morgenthau-Plans gerettet. Jetzt wird die Peripherie ­Europas Opfer eines de facto-Morgenthau-Plans – unter deutscher Aufsicht. Persönlich finde ich diesen Widerspruch schwer zu verstehen.

In diesem Kontext stellt sich die Frage, wie die Weltbank behaupten kann, dass Armut das Resultat fehlender Institutionen, losgelöst von jeglicher Technologie ist. Nach dieser Aussage ist das Sammeln von Federn und die Produktion von Medikamenten auf eine Ebene zu stellen. Wie kann man die völlig falsche Aussage der Weltbank werten?

Reinert:
Das Grundproblem ist, dass die Welt nach der Handelstheorie von David Ricardo (1817) organisiert ist. Ricardo hat der Weltwirtschaft den Tausch von Arbeitsstunden modelliert, in denen alle Arbeitsstunden – unabhängig vom Technologieniveau – qualitativ gleichwertig sind. Deshalb kann man mathematisch „beweisen“ dass es unter globalem Freihandel eine Tendenz geben wird, dass Federsammler und Medikamentenproduzenten gleich reich werden.

Der Unsinn liegt in den Voraussetzungen, die von Ricardo eingebaut wurden: Dass alle Arbeitsstunden von gleicher Qualität sind. Also ist das Problem, dass man heute nicht sieht, dass einige Länder unter imperfekter Konkurrenz, unter bedeutenden Skalenerträgen und Zutrittsschranken arbeiten, andere aber nicht. Statt endlich den Hauptgrund – die wirtschaftliche Struktur – als Übel anzugehen, erfindet die Weltbank Symptome. Meines Erachtens verstehen die maßgeblichen Institutionen nicht, welche jeweiligen Wirtschaftsstrukturen zuerst entstehen. Es war nicht so, das die Venezianer das Eigentumsgrundbuch (catasto) und damit sichere Eigentumsrechte vor 900 Jahren erfunden haben, um danach den Kapitalismus zu entwickeln.

Es war eher umgekehrt: Venedig hatte ein Wirtschaftssystem, wo man eine solche Erfindung brauchte. Einer Jäger- und Sammlerkultur hilft ein Grundbuch sehr wenig. Dasselbe gilt für das Versicherungswesen: Man hat nicht das Versicherungswesen erfunden, und danach erst den Fernhandel begonnen. Man trieb Handel mit großem Risiko, und es wurde zunehmend beschwerlicher, das Risiko jedes Schiffes zwischen Duzenden von Eigentümern zu verteilen. Das war der Grund, das Versicherungswesen zu erfinden. Für arme Länder ist die völlig falsche Auffassung der Weltbank ein großes Problem: Man wartet auf Institutionen, die wenig Nachfrage erzeugen, statt eine Wirtschaftsstruktur zu schaffen, die moderne Institutionen wirklich brauchen.

Zölle haben eine wichtige Funktion, um die Wirtschaftsordnung von Staaten zu gewährleisten. Sie erwähnen in ihrem Buch, dass England im Jahre 1846 aufhörte, seine Landwirtschaft durch Zölle zu schützen. Ziel war es, für die Industriearbeiter billiges Brot zu erwerben. Andere Länder wurden ermuntert, dem Beispiel zu folgen. Jedoch wurde dadurch die soziale Problematik verschärft, bis sich im Jahre 1848 in fast allen großen Ländern Europas Revolutionen ereigneten. Was passierte damals? Gingen etwa viele Firmen durch den Wegfall der Zölle wegen Dumpings in Konkurs und die Massen der verarmten Arbeiter dadurch auf die Straße?

Reinert:
Da sie ihre Landwirtschaft nicht mehr geschützt haben, versuchten die Engländer die anderen Ländern Europas zu überzeugen, dass sie keinen Industriezoll bräuchten. Diese Strategie ist zu 100 Prozent gescheitert. Die Revolutionen in Europa im Jahre 1848 haben langsam den Sozialstaat geschaffen. Als der große deutsche Ökonom Gustav Schmoller anlässlich der Gründung des Vereins für Sozialpolitik 1872 gesagt hat: »Unsere heutige Gesellschaft droht mehr und mehr einer Leiter zu gleichen, die nach unten und oben rapide wächst, an der aber die mittleren Sprossen zunehmend ausbrechen.« Die sogenannte soziale Frage war innerhalb der europäischen Länder hoch priorisiert, und wurde langsam gelöst.

Die meisten Länder haben mit Friedrich List verstanden, dass Agrarzölle kein guter Weg waren, hingegen jedoch Industriezölle. Höhere Löhne und Kaufkraft, zusammen mit technologischen Innovationen, haben Wohlstand in allen Ländern Europas geschaffen, weil die Industrie in allen Ländern verteilt war! Lange dachte man, dass die Armut auf dem Land besser war als die Armut der Industriearbeiter. Erst am Ende des Jahrhunderts hat man zum ersten Mal gesehen, dass die Landwirtschaft von den Städten „ausgebeutet“ wurde und hat daher auch die Landwirtschaft geschützt.

Hat demnach die EU bereits den Keim des Scheiterns in sich, da sich hier augenscheinlich die Geschichte wiederholt?

Reinert:
Dass der Keim des Scheiterns schon vorhanden ist, muss ich leider bejahen. Meines Erachtens wird es schlimmer sein als damals. Der Westen glaubt jetzt an seine eigene alte Propaganda – basierend auf den Fantasien von David Ricardo. Dies ist sehr riskant, weil Asien unsere alte, erfolgreiche Strategie übernommen hat. Was hingegen Europa von 1848 bis Ende der 1980er Jahren – mit der langsamen EU-Integration Spaniens, um die dortige Industrie zu retten – gewusst hat, ist jetzt verlernt.

Der heutige selbstverstärkende Teufelskreis der Deindustrialisierung – zunehmende Arbeitslosigkeit, fallende Nachfrage, fallende Steuereinnahmen, und Massenauswanderungen wird mit unflexiblem Wechselkurs des Euro, mehr Austerity, und einer irren Geldschöpfung, die Spekulationsblasen in den Finanzmärkten schafft, „bekämpft“. Das sind alles Maßnahmen, die die Situation schlechter machen und die den Teufelskreis verstärken.


In jeder Regierung sitzen doch studierte Volkswirtschaftler. Liegen die alle falsch?

Reinert:
Die Volkswirtschaftler haben sich in der Gleichgewichts-Metapher verloren. Arthur F. Burns, Leiter der amerikanischen Nationalbank von 1970 bis 1978, klagte: »The warnings of a Marx, a Veblen, or a Mitchell that economists were neglecting changes in the world gathering around them, that preoccupations with states of equilibrium led to tragic neglect of principles of cumulative change, went unheeded.«

Wir sind uns nicht bewusst wie sehr sich unser Verständnis der Welt verändert hat, was alles der Neuliberalismus-Ideologie geschuldet ist. Das Burns – ein ehemaliger Leiter der Federal Reserve – Marx und Veblen als Autoritäten hervorgehoben hat, ist heute undenkbar. Arthur Burns war der letzte institutionelle Ökonom in den USA, der großen Einfluss gehabt hat. Die institutionelle Schule in den USA und die historische Schule in Deutschland hatten sehr ähnliche Wirtschaftstheorien, die beide ideologische Extreme vermieden haben.

In seiner Antrittsrede als Rektor der königlichen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, im Jahre 1897, wurde von Gustav Schmoller klar gesehen und gesagt, dass die beiden ideologischen Extreme „naive Zwillingsgeschwister“ sind: »Der naive Optimismus des „laissez faire“ wie der knabenhafte frivole Appell an die Revolution, die kindische Hoffnung, dass die Tyrannis der Proletarier große Weltreiche glücklich leiten könne, zeigten sich mehr und mehr als das, was sie waren: Die Zwillingsgeschwister eines unhistorischen Rationalismus, als die abständigen letzten Reste der eudämonistischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts.«

Es ist äußerst tragisch, das der eine naive Zwilling 1989 beim Fall der Mauer gestorben ist und der zweite – gleich naiv und weltfremd – zu unserem ideologischen Diktator geworden ist. Die pragmatische politische und idelogische Mitte – vertreten durch Schmoller in Deutschland und die institutionelle Tradition von Veblen bis Burns in den USA – ist fast völlig gestorben. Die EU ist in einer intellektuellen Sackgasse gefangen. Pragmatischen Theorien, die Probleme zu lösen vermögen, sind fast verschwunden beziehungsweise werden nicht beachtet.

Sie erwähnen in Ihrem Buch, dass Peru und die Mongolei ein mahnendes Beispiel für zu frühen Freihandel sind. Diese Länder haben ihre Industrie dadurch verloren. Wird dies auch in Europa für einige Länder zutreffen, wenn TTIP zu früh und vor allem in nicht abgeschwächter Form ratifiziert wird?

Reinert:
Der große Fehler wurde am 1. Mai 2004 begonnen, als man die ehemaligen Sowjet-Staaten – die ihre Industrie in großen Maß schon verloren hatten – ohne jegliche Industriepolitik von einen Tag auf den anderen mit allen Freiheiten in der EU zugelassen hat. Hätte man dort eine Strategie wie mit Spanien in den 80er Jahren durchführt, wäre der Druck, die Löhne in Europa zu senken, nicht so groß gewesen. Man hat eigentlich denselben Fehler wie bei der Wiedervereinigung Deutschlands wiederholt: zu schnelle Integrierung.

Hinzu kam der hohe Wechselkurs, ohne die riesigen Ressourcen – die dort vorhanden waren – zu nutzen. Das war, wie es der kolumbianischen Schriftsteller Gabriel García Márques sagte, eine ›Chronik eines angekündigten Todes‹ – es war schon vorher deutlich sichtbar, was passieren wird, und viele von uns haben es auch geschrieben. Jetzt haben mehr als 20 Prozent der Einwohner Lettlands ihr deindustrialisiertes Land verlassen. Mein Buch wurde kürzlich ins Ukrainische übersetzt. Meine dortigen Kollegen schätzen, und ich bin der gleichen Meinung, dass etwa zehn Millionen Personen das Land verlassen werden, um zu überleben.

Prozentweise entspricht dies der Größenordnung an Menschen, die Lettland verlassen mussten. Die USA fahren deutlich die Strategie – bewusst und unbewusst – die Löhne nach unten zu drücken. Mit den USA eine Schicksaalgemeinschaft zu begründen ist meines Erachtens keine gute Idee.

Abraham Lincoln sagte einmal, dass Freihandel eine feine Sache sei, die man sich leider noch nicht leisten könne. Die Zölle zum Schutz der US-Industrie waren daher damals entsprechend hoch. Heute können sich die USA den Freihandel scheinbar leisten. Doch wie steht es um Europa? Wäre es nicht besser, den Freihandel erst dann einzuführen, wenn alle Länder in Europa eine starke und wettbewerbsfähige Industrie haben?

Reinert:
Asien, vor allem China, hat die altbewährte Strategie des Westens gut verstanden. Der Westen hingegen ist ein Opfer seiner eigenen Propaganda geworden. Wir müssen die Industrie Europas retten, aber einfach wird es nicht. Der Welthandel ist heute leider ein System, wo es möglich ist, dass sehr wenige Länder gewinnen. Die Amerikaner sprechen von „winner-takes-it-all“, der Sieger – zum Beispiel China – nimmt alles. Dazu muss gesagt werden, dass ich China nicht kritisiere. Dieses Land hat für die Welt – wie Deutschland für die EU – eine gute Strategie. Das Problem kommt erst, wenn diejenigen Länder, die ihrer Industrie verlieren werden, auch ihre Kaufkraft langsam verlieren. Dann stehen die „Gewinner“ – China und Deutschland – mit zwar großer Produktionskapazität, aber nachlassender Kaufkraft aus dem Ausland, ebenfalls auf der Verliererseite. Das ist ja nicht gerade klug.

Länder ohne Industrie sind zur Armut verdammt. Neue Industrie braucht daher den Schutz durch Zölle. Dies erkannte bereits der schon einmal erwähnte Friedrich List. Beispielsweise hat sich Norwegen 1847 dafür entschieden, Zölle auf schwedische Waren zu erheben, um die fragilen Anfänge der norwegischen Industrie gegen die stärkere schwedische Industrie zu schützen. In Deutschland wurde hingegen in jüngerer Zeit zugelassen, dass die deutsche Solarindustrie zu einem großen Teil von chinesischen Billiganbietern zerstört wurde. Ein klarer Fall von politischem Versagen?

Reinert:
Ein schwieriges Problem. In den frühen Stufen einer neuen Industrie sind die Lernkurven sehr steil: Die Kosten fallen schnell, wie etwa in der Informationstechnologie in den 90er Jahren. Dasjenige Herstellerland, das auf dieser Lernkurve vorausläuft – durch Vo­lumenwachstum mit oder ohne Subventionen – kann einen hohen Marktanteil gewinnen. Meines Erachtens sollte man verschiedene Solartechnologien erforschen. Das ist einer der Gründe warum man in Europa auch diese Technologie subventionieren sollte. Sehr oft sind Militärzwecke der Hintergrund für Subventionen und Zollschutz gewesen. Man sollte solche Hilfe auch ohne Kriege in Erwägung ziehen.

In ihrem Buch gehen Sie ausführlich auf das Phänomen der abnehmenden Skalenerträge ein. Der Ökonom Alfred Marshall bemerkte dazu, dass dadurch alle Völkerwanderungen in der Geschichte der Menschheit ausgelöst wurden. Von Völkerwanderung kann auch heutzutage gesprochen werden, angesichts hunderttausender Menschen, die jedes Jahr in die EU beziehungsweise nach Deutschland strömen. Was müssten Europas Regierungen Ihrer Meinung nach tun, um dies mittelfristig abzustellen?

Reinert:
In Ländern bis etwa 40 Einwohnern pro Quadratkilometer finden Menschen außer in Europa keine Arbeit. Wenn sie nach Holland – mit etwa 400 Einwohnern pro Quadratkilometer – ziehen, finden sie aber Arbeit. Der Westen muss sich nochmals daran erinnern, was Deutschland vor dem Morgenthau-Plan gerettet hat. Infolge eines Abkommens der Alliierten im Zweiten Weltkrieg im Jahre 1944 sollte Deutschland ursprünglich nach dem Sieg der Alliierten in einen Agrarstaat – ohne Industrie - umgewandelt werden. Das sollte langfristig verhindern, dass Deutschland je wieder einen Angriffskrieg führen könne. Deutschland wurde damals jedoch durch den ehemaligen US-Präsidenten Herbert Hoover gerettet. Der Morgenthau-Plan wurde sofort gestoppt, als Hoover im März 1947 aus Deutschland einen Brief an den amtierenden US-Präsidenten schickte.

Darin stand: »Es gibt die Illusion, dass das neue Deutschland… in einen ­Agrarstaat umgewandelt werden kann. Das ist nur machbar wenn 25 Millionen Menschen vernichtet oder außerhalb Deutschlands umgesiedelt werden.« Der Marshall-Plan, der Deutschland und Europa wieder industrialisieren sollte, wurde im selben Jahr bekanntgemacht. Man hatte verstanden, dass ein armes Europa ohne Industrie leicht zur Beute des Kommunismus werden konnte. Jetzt ist durch interessierte Wirtschaftskräfte ein de facto-Morgenthau-Plan in der Peripherie der EU wieder geweckt worden: Diese Länder verlieren ihre Industrie. Man kann Ökonom Alfred Marshall – der Begründer der neoklassischen Volkswirtschaftslehre – etwas zufügen: Die großen Völkerwanderungen von heute sind eine Folge der abnehmenden Skalenerträge der Landwirtschaft sowie des Mangels an Industrie (mit zunehmenden Skalenerträgen).

Die Lösungen sind dieselben, die Hoover im Jahre 1947 präsentiert hat: 1) Umsiedeln (wie jetzt), 2) Industrie auch in den armen Ländern ausbauen (wie damals in Deutschland), oder 3) Vernichtung der Menschen. Wenn man es durch dieselbe theoretische Brille sieht, wie Hoover es damals gesehen hat, ist die Lösung nicht so schwierig.

Diese Lösung ist aber mit Freihandel nicht möglich. Kein Land kann ohne Zollschutz industrialisiert werden. Bei England dauerte es mehr als 400 Jahre, Korea schaffte es in nur 40 Jahren. Alle benötigten jedoch den Zollschutz. Jetzt ist aber Freihandel fast zu ­einer Religion geworden; eine Religion, die Armut schafft, große Völkerwanderungen verursachen wird und den Weltfrieden bedroht. Gerade Deutschland – das vor diesem Schicksal gerettet wurde – hat meines Erachtens eine sehr große internationale Verantwortung.

Deutschland macht jedoch denselben Fehler in der EU, den man mit der ehemaligen DDR gemacht hat: Zu hohe Wechselkurse (damals 1 Ostmark = 1 Westmark, jetzt der eingefrorene Wechselkurs des Euro) die zu einer Deindustrialisierung und Umsiedlungen nach West-Deutschland geführt hat. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat Unsummen gekostet, jetzt benutzt man dieselbe Strategie mit der EU-Peripherie und versteht nicht, dass Kosten entstehen?

Herr Reinert, vielen Dank für das Interview.

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